Gestern Abend gingen die meisten Menschen in Europa noch mit einer klaren Ansage der Meinungsforscher und Politikbeobachter schlafen: In den Umfragen und den Medienkommentaren lag – mit ganz wenigen Ausnahmen – Hillary Clinton ziemlich eindeutig vorne. Die Bundesstaaten an der Ost- und Westküste schienen sicheres Terrain mit vielen Wahlmännern zu sein. Trotz einer sich langsam wandelnden öffentlichen Meinung sah es so aus, als wenn Hillary Clinton den Vorsprung halten kann und demnächst ins Weiße Haus einzieht. Überrascht reiben wir uns am Morgen des 09. November die Augen und gratulieren Donald Trump zu seinem Wahlsieg. Und fragen uns: Wie konnte das passieren?

Das modifizierte „Weiter so“ fliegt Hillary Clinton um die Ohren

Die Kampagnen der beiden Präsidentschaftsbewerber konnten unterschiedlicher nicht sein. Bei Hillary Clinton finden sich im Rahmen einer bieder wirkenden, uninspirierten Kampagne auf der Homepage und in den Reden ziemlich viele „Issues“ (Themen), die angegangen werden müssten. Dort ist von einem fairen Steuersystem die Rede, von Drogenbekämpfung oder auch einer Wirtschaft für alle. Diese Auflistung brach schon im Fernsehduell zwischen Donald Trump und Hillary Clinton zusammen. Einfach weil der nur als Außenseiter gehandelte Kandidat fragte: Warum hat sie dies als Berufspolitikerin und Außenministerin nicht schon längst umgesetzt?

In den Medien wurde dann der vorgetragene Vorwurf kommuniziert, dass Hillary Clinton nur reden, aber nicht handeln würde. Diese deutliche Ansprache der Nachteile bzw. des angeblichen Versagens von Gegenkandidaten ist nicht unbedingt üblich, wurde in den Vorwahlen den Gegenkandidaten von Donald Trump schmerzhaft bewusst: Der Kandidat Jeb Busch musste sich als Niedrigenergie-Jeb verspotten lassen, ein anderer als nicht stressresistent und immer schwitzend.

Deftige Kampagnenmotti mit hohem Aufmerksamkeitswert

Der in der Öffentlichkeit schon lange als ruppig und unhöflich bekannte Immobilientycoon und Unternehmer Donald Trump verstand es auf einzigartige Weise die Unbeliebtheit und seine fehlenden Manieren in Wählerstimmen umzusetzen. Ein Wahlergebnis, was die klassische Kommunikations- und PR-Industrie in Erstaunen versetzen dürfte. Plötzlich wird nicht jemand gewählt, der weich gespült und ohne Ecken und Kanten Themen anspricht, und möglichst alle Minderheiten und Lebenssituationen sprichwörtlich umarmt.

Wahlgewinner ist jemand, der ein ziemlich robustes Mandat zugunsten des eigenen Landes ankündigt. Mehrere deftige Motti könnten sich als entscheidend bei der Begeisterung und Mobilisierung der Wählerinnen und Wähler erwiesen haben:

„Make America great again“ und „Trump digs coal“ (Trump schürft nach Kohle)

Dieses Doppelmotto bezieht sich auf die vielen industriellen Arbeitsplätze, die durch Hillary Clintons Begeisterung für erneuerbare Energien gefährdet schienen. Während seiner Wahlkampftour sprach er unablässig davon, dass er Arbeitsplätze schaffen wird. Entweder durch Neuverhandlung von Handelsabkommen bzw. Strafzöllen oder durch Rückholen von Industriearbeitsplätzen.

 

„Lock her up“ (Hillary Clinton gehört ins Gefängnis)

Dieses Motto untergräbt ganz direkt die Glaubwürdigkeit der Kandidatin Hillary Clinton. Eine geniale Kampagnenidee, für die Hillary Clinton aber leider auch jede Menge Munition lieferte. Beginnend bei der beim fast schon paranoischen Sicherheitswahn in den USA als unakzeptabel geltenden Weiterleitung von Regierungsgeheimnissen auf Privatserver und deren dortige, nicht nachvollziehbare Bearbeitung über eine umstrittene Rolle der Clinton-Familie als Rechtsanwalt, bis hin zu angeblichen Falschaussagen („She is a lier“=Sie ist eine Lügnerin).

 

„Wir bauen eine Mauer“

Dies ist die Trumpsche Variante einer „law and order“-Politik, die insbesondere illegale Einwanderer für ziemlich viele gesellschaftliche Übel verantwortlich macht. Beginnend bei Drogen und Kriminalität bis hin zu Vergewaltigungen. Die Kampagne sieht die Sicherheit in den USA gefährdet. Mit dieser Kampagne konnte er auch die legal eingewanderten Menschen gewinnen und so zumindest teilweise den offenen Charakter der USA bewahren. Da es keine plumpe Forderung „Ausländer raus“ gewesen ist.

 

Erstaunlich: Die Menschen wenden sich der Politik zu und nicht ab

In der Rückschau zeigt sich: Die Wahlbeteiligung ist auch deshalb gestiegen, weil Donald Trump das „Weiter so“ nicht akzeptieren wollte und als Quereinsteiger für sich und viele andere Amerikaner den ureigenen amerikanischen Traum vom Tellerwäscher zum Millionär wieder ermöglichen möchte. Offensichtlich steigerte der harte, oftmals auch derbe Wahlkampf nicht die Politikermüdigkeit. Sondern erschloss neue Potenziale insbesondere auch bei Nichtwählern, die wortleere Hülsen nicht mehr akzeptieren. Auch deshalb wird der 8. November 2016 in die amerikanische Geschichte und die Geschichte der westlichen Demokratien eingehen.

Erdrutschsieg oder erwachsene Demokratie?

Auch wenn der Wahlsieg Donald Trumps ziemlich überraschend kam ist es kein wirklicher Erdrutschsieg. In manchen Bundesstaaten trennen die beiden Kandidaten nur wenige Prozent der Wählerstimmen voneinander. Allerdings fällt – ähnlich wie beim Brexit – etwas auf: Die Wählerinnen und Wähler scheinen nach 240 Jahren Demokratie in den USA erwachsen geworden zu sein. Sie akzeptieren nicht mehr einfach das, was ihnen seit Jahren als „richtig“ präsentiert worden ist. Sondern sie vergleichen die täglich erlebte Realität mit der politischen Kommunikation und den Absichtserklärungen. Liberalisierung (von Post, öffentlicher Versorgung und Bahn) hat eben nicht zu einem Wohlstandsplus geführt ebenso wenig wie die Reduzierung von Zöllen.

In der Zusammenfassung kann man sagen, dass die Wählerinnen und Wähler kritischer denn je sind. Und es die „Stammwähler-Milieus“ schlicht weg nicht mehr gibt. Dies musste auch die EU-Kommission feststellen, als ihr dem auch von Frau Clinton kommunizierten Freihandelsansatz ähnliches Wirtschaftsmodell bei der Brexit-Abstimmung abgewählt worden ist. Und trotz aller kommunikativen Anstrengungen die Wähler die europäische Integration in der bisherigen Form nicht mehr akzeptierten. Ähnlich wie das „Weiter so“ der Clinton-Kampagne.

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Titelblid: iStock.com – andykatz