Wie die meisten Beobachter erwartet hatten, gewann Recep Tyyip Erdogan die Präsidentschaftswahlen in der Türkei. Überraschter zeigten sich hingegen viele Kommentatoren von dem großen Jubel, mit dem zahlreiche Deutschtürken auf den Wahlsieg des umstrittenen Autokraten reagierten.
Überwältigende Begeisterung ohne kritische Untertöne
Viele Deutsche trauten ihren Augen kaum, als sie mit ansehen mussten, wie ihre türkischen Mitbürger Erdogans Sieg mit Autocorsos, Freudengesängen und -tänzen auf der Straße sowie Feuerwerken feierten. Immerhin zwei Drittel aller hier lebenden Türken, die sich an der Präsidenschaftswahl beteiligten, haben für den Despoten gestimmt.
Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass nur etwa die Hälfte der Wahlberechtigten überhaupt an der Abstimmung teilnahm. Dennoch stimmen diese Tatsachen nachdenklich, denn bei einem großen Teil der Erdogan-Anhänger handelt es sich um Türken, die entweder in Deutschland geboren wurden oder bereits seit Jahrzehnten hier leben. Aus diesem Grund liegt die Frage nahe, ob die türkischen Mitbürger den Rechtsstaat und die Demokratie gering schätzen oder ob vielleicht sogar ihre Integration komplett gescheitert ist?
Bei einer differenzierten Analyse der Beweggründe für dieses Verhalten ergeben sich jedoch andere Aspekte, die als Erklärung für die Verehrung Erdogans in Frage kommen.
Die „Wohltaten“ des Recep Tyyip Erdogan in der Türkei
In Interviews äußern sich Deutschtürken, die zu Erdogans Sieg befragt werden, häufig enthusiastisch über die Verbesserung der Infrastruktur in der Türkei. Sie geben an, bei Besuchen im Land am Bosporus deutliche Fortschritte im Gesundheits- und Schulwesen sowie im Hinblick auf den Zustand der Straßen und des Öffentlichen Nahverkehrs zu bemerken.
Tatsächlich hat es Erdogan in den Jahren nach seiner ersten Wahl zum Ministerpräsidenten 2003 geschafft, der Wirtschaft und Verwaltung wichtige positive Impulse zu geben.
Bei Urlauben in der Türkei sehen viele Deutschtürken, ebenso wenig wie westliche Touristen und viele Geschäftsreisende kaum, welchen Repressalien und Drangsalierungen politisch Andersdenkende mittlerweile ausgesetzt sind. Berichte über die Verfolgung von Kurden und andere Oppositionellen halten viele hier lebende Türken für Propaganda und Stimmungsmache.
Erdogan spricht das National- und Ehrgefühl von Deutschtürken an
Viele der in Deutschland wohnenden Türken fühlen sich als Bürger zweiter Klasse, dies machen sie unter anderem an diesen Tatsachen fest:
- Türkische Kinder erreichen im Schnitt schlechtere Bildungsabschlüsse als ihre deutschstämmigen Schulkameraden.
- Es kommt häufig zu Benachteiligungen von Bewerbern mit einem türkisch klingenden Namen bei der Vergabe von Stellen.
- Frauen mit Kopftuch erfahren in der Öffentlichkeit keine Wertschätzung, vielmehr gelten sie als Opfer religiös motivierter Unterdrückung.
- In der aktuellen Debatte über die Migration dienen Türken in Deutschland, die kaum die Landessprache beherrschen, als Beispiel für mangelnde Integrationsbereitschaft.
Deutsche Medien kritisierten das Fotoshooting der beiden Fußballstars Mesut Özil und Ilkay Gündogan mit Erdogan scharf. Dies verstanden viele Deutschtürken als beleidigend, anmaßend und respektlos. So stellte die türkische Präsidentschaftswahl eine willkommene Gelegenheit für sie dar, ihren Nationalstolz auszudrücken. Dabei mag auch eine gehörige Portion Trotz mitgewirkt haben.
Die Begeisterung über Erdogans Sieg ist in dieser Hinsicht auch ein Beleg für mangelnde Sensibilität im Umgang mit Mitbürgern, die einen muslimischen beziehungsweise türkischen Hintergrund besitzen.
Intensiver Dialog statt erhobener Zeigefinger
Es scheint wenig hilfreich, Deutschtürken, die Erdogans Sieg feiern, massiv dafür anzugreifen. Dies führt nur zu einer Verschärfung, der auf Seiten der türkischen Mitbürger bereits bestehenden Ressentiments beziehungsweise des Gefühls, bevormundet zu werden. Stattdessen wäre eine politische Debatte mit den deutschtürkischen Erdogan-Anhängern wünschenswert, die deren Motive genauso thematisiert wie die hierzulande geschätzte freiheitliche und demokratische Grundordnung.
Titelbild: ©iStock.com – AndreyPopov
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